Montag, September 16, 2024

Willy-Brandt-Platz

„Der Platz hier? Ach kommen Sie, das ist doch einfach nur langweilig hier, oder?“

Eine Passantin am Willy-Brandt-Platz 2013

Annäherung mit der Klasse 8a der Lehrer-Wirth-Mittelschule

wir hier / here we are von Michael Lapper / büroriem

2013 realisierte ich zusammen mit Schülern, Bewohnern und Besuchern der Messe ein Kunstprojekt auf dem monumentalen Willy-Brandt-Platz. Zu der Zeit war die riesige betonierte und gepflasterte Fläche unvollständig bebaut und franste nach Norden und Westen hin ins Nirgendwo aus. Kein Zentrum, keine Fassung und somit eigentlich auch kein Platz und schon gar keine Aufenthaltsqualität. Und weil sich eben niemand dort gerne aufhalten wollte, bekam der Wllly-Brandt-Platz bald seinen Spitznamen als „Platz der Leere“.

In der Installation wir hier / here we are sollten die durchaus vorhandenen Leute mit ihren Beiträgen und Geschichten in einem Labyrinth aus Hunderten von Gurtpfosten auf diesem schwierigen Pflaster sichtbar werden. „Woher kommen Sie? Wie sind Sie hierher gekommen? Lassen Sie uns was da?“

Auf den umliegenden Dächern montierte Schweinwerfer tauchten die zentrale kreisrunde Platzfläche in ein blaues Licht. Im Kontrast dazu die rot leuchtenden Bänder mit aufgedruckten Texten, die von Menschen erzählten, die als Besucher kamen oder hier leben. Der Platz war Tag und Nacht völlig frei begehbar.

Für einen Monat war der Willy-Brandt-Platz nun etwas anderes als eine öde uninteressante Fläche: Ein Labyrinth (zum Fangen spielen, für Omas und ihre kleinen Enkel, auch Skater benutzten ihn als Parcours), eine graphische Weltkugel, die Geschichten erzählt über das Woher und Wohin, nachts eine leuchtende Theaterkulisse und am Samstagnachmittag ein entspannter Ort, der nach dem Einkaufen auf bequemen Stühlen in die Bänderlandschaft unter der milden Oktobersonne zum Verweilen einlädt. Der Platz war plötzlich lebendig.

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Elf Jahre später: Inzwischen wurde die Bebauung mit einem weiteren Gebäudekomplex der Shopping Mall fertiggestellt. Auch der ursprünglich geplante Portikus – filigrane Säulen mit einem hoch darauf ruhendem Dachstreifen aus Stahl – fasst die monumentale Fläche im Norden abschließend ein. Auf dem Platz stehen nun wie in Wien (von dort kommen diese „Enzis“) bunte Sitzmöbel aus Plastik, schön ordentlich in Reih und Glied. Schade eigentlich, in Wien sind diese leger unregelmäßig über den jeweiligen Platz verteilt. Dort hat man sich auch farblich für ein kräftiges Lila oder Grün entschieden, hier für einen Rot-Gelb-Blau-Playmobilmix, der gut zur Shopping Mall passt. Im Sommer werden zur Verhübschung aus der Fußgängerzone im Stadtzentrum ausrangierte Blumenkübel und im Winter kleine Christbäume im Kreis aufgestellt.

Karikatur für die Stadtteilzeitung
Ein geforderter „Unterstand“ für Jugendliche war im Stadtteil ein ewiges Thema und wohl eine der schwierigsten Bauaufgaben unserer Zeit. Aber das ist eine andere Geschichte …

Aber immer noch wird die Aufenthaltsqualität eines lebendigen städtischen Platzes vermisst. 2023 hat die Stadt den Versuch einer Neugestaltung unternommen, beteiligt waren auch die BürgerInnen. Dabei wurde eine große umfassende Begrünung des Platzes mit vielen Aufenthaltsbereichen entwickelt. Allerdings dürfte eine Realisierung angesichts der unter dem Platz liegenden Tiefgarage des Einkaufszentrums nicht billig werden und wegen der knappen Stadtkasse noch etwas dauern.

Wagenburg Europa. Zeichnung / Entwurf für Willy-Brandt-Platz, Übersee-Container und Enzi-Sitzmöbel

Ein Wirtschaftsmodell, das im massenhaften Konsum auf oftmals problematischer Herstellung beruht und meist in nicht weniger problematischen Plastikmüll endet.
Bildmontage / Entwurf für einen Portikus aus Übersee-Containern mit thematischer Beschriftung.

Und jetzt? 2024 schlagen die gleichen Themen wie früher auf, nur härter.

Und jetzt?
2024 schlagen die gleichen Themen und Probleme wie elf Jahren zuvor auf. Nur härter. Mit dem Rechtsruck in weiten Teilen der Gesellschaft und Politik wird Migration hauptsächlich als Problem wahrgenommen (obwohl sie Teil der Lösung des demographischen Faktors wird sein müssen, wie etwa das Arbeitsamt und die Wirtschaft immer wieder betonen). Nach der Corona-Pandemie und während der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten zeigt sich eine gereizte, strapazierte Gesellschaft im Krisenmodus, die wie paralyisiert auf die wachsenden Krisen blickt. Von der fortschreitenden Aufheizung des Erdklimas ganz zu schweigen.

Lange Zeit war der Willy-Brandt-Platz ein blinder Fleck, in dem sich nichts erkennen ließ. Wenn man jedoch genauer hinschaut, lässt sich dort durchaus wieder sehen lernen. Hier können viele aktuelle Themen unserer Zeit aufschlagen. Migration und Stadtgesellschaft, Welthandel und Globalisierung, Wirtschaftsmodell und Konsumkultur (inkl. der umgebenden Shopping Mall). Und letztlich, wie wir leben.

Wie wollen wir leben? Was macht es uns in unserer Existenz leicht und was schwierig? Welche Vorstellungen gibt es darüber, welche Ideen wären interessant?
Einen solchen Diskurs breit und öffentlich zu führen, ist schwierig geworden. Zu vieles ist kommerzialisiert und zu sehr hängen wir in unseren Milieus und sozialen Blasen gebunden. Als Ort für einen solchen Diskurs der Stadtgesellschaft käme gut ein großer Platz infrage.

Mehr dazu im folgenden 2. Teil.

Das Projekt wir hier / here we are ist ausführlich im Projektbuch aufbereitet. Es ist hier erhältlich.

Kunst gibt es nicht umsonst, sondern kann z.B. im Beauty Free Shop erworben werden.

„Ganz bei Willy“
Entwurf für eine Projektion auf dem Willy-Brandt-Platz Messestadt Riem

Willy Brandt, ehemaliger Bundeskanzler und Bürgermeister von Berlin: „Ich habe die Erfahrung bestätigt gesehen, dass es hoffnungslose Situationen kaum gibt, solange man sie nicht als solche akzeptiert.“