Freitag, Mai 10, 2024

Auf den ersten Blick

Messestadt-Riem

Plakat als atmosphärischer Überblick von oben 2010. Mittlerweile hat sich zahlenmäßig einiges überholt: Es leben einige tausend Menschen mehr hier. Auch der internationale Anteil dürfte gestiegen sein. Und baulich wird in den nächsten Jahren mit dem 5. Bauabschnitt ein umfangreiches neues Baugebiet im Westen angrenzend dazu kommen.

Flieger_Zeichnung

Hier war mal ein Flughafen

Bevor die Messestadt entstand: Nur noch wenig erinnert an den im „Dritten Reich“ 1939 errichteten Flughafen München Riem, der bis 1993 hier in Betrieb war. Mit dem Wegzug des Flughafens an den neuen Standort im Erdinger Moos entstand hier der neue Stadtteil mit angrenzendem großzügigen Park und dem Areal der neuen Münchner Messe.

TIMELINE war ein Projekt 2023 zur Geschichte des Stadtteils. Der Trailer erlaubt in flotten Bildern den Blick zurück bis in die Gegenwart.
Weitere Infos dazu unter: www.warhierwas.de

Auf Straßenniveau

Auf den ersten Blick wirkt die Messestadt Riem wie viele andere Neubaugebiete unserer Zeit: Im Raster mehr der weniger austauschbarer Wohnkuben sieht alles irgendwie gleich aus, meist vergeblich sucht das Auge etwas Markantes, Originelles. Versiegelte Flächen umrahmen schmale Grünstreifen, schnurgerade reißbrettartig gezogene Straßen lassen von Anfang bis zum Ende kaum etwas Überraschendes erwarten.
Ein das Viertel besuchender Journalist hatte die Messestadt mal als Wohngebiet beschrieben, „in dem das Leben auf der Straße aus Einparken und den Hund Gassiführen besteht.“ Sicher überzogen, aber es stimmt eben schon auch.

1999

entstehen die ersten Häuser auf der vom Flughafen geräumten Kiesprärie im Münchner Osten. Während andere Städte ihre Sozialwohnungsbestände veräußern, setzt man hier auf eine „Münchner Mischung“ aus je einem Drittel sozialen, geförderten und frei finanzierten Wohnungsbau. Ziel ist die vielfältige Abbildung aller Bevölkerungsschichten. Die Entstehungszeit ist mit etwa 16 Jahren veranschlagt und die Pläne der Stadt sind äußerst ambitioniert.

Die freigewordenen Flächen des ehemaligen Flughafens München Riem werden geschickt in drei große, nebeneinanderliegende Bereiche gegliedert und miteinander kombiniert. Im Norden das Areal der neuen Münchner Messe, die aus der Schwanthaler Höhe im Zentrum der Stadt ebenfalls in neue Hallen hierher umzieht. In der Mitte entsteht ein langgezogener Streifen der Bebauung für etwa 16.000 Menschen, und im Süden fügt sich – mit dem Wohnviertel verzahnt und mit der Bundesgartenschau 2005 verknüpft – ein sehr großzügiger neuer Park mit Badesee an. Dazu kommen eine große Shopping Mall und Büro- und Gewerbegebiete im Westen und Osten. Durch die Verknüpfung werden auch die Verkehrs- und Infrastruktur zusammengedacht und gleich zu Beginn fertiggestellt.

Als die neuen Bewohner in das Viertel ziehen, ist die U-Bahn schon fertig und auch Kitas und Schulen stehen schnell zur Verfügung. Mit den Kunstprojekten Messestadt Riem begleitet ein international ebenso hochgestecktes wie breit gedachtes Kulturprogramm die Entstehung des neuen Stadtteils.

Zurück in der Wirklichkeit

Die Planer werden im Lauf der Zeit von dem rapide wachsenden Bedarf an günstigen Wohnungen genauso überrascht, wie vom wachsenden Anteil international agierender und wenig vor Ort verankerter Immobilien-Investoren. Die Kunstprojekte Riem finden unter der neuen Kulturreferentin ein schnelles Ende. Die Shopping Mall bekommt fast doppelt soviel Fläche wie vorgesehen und wird viel Kaufkraft im Viertel abziehen; der riesige Willy-Brandt-Platz wird – über lange Zeit nicht fertiggestellt – zum Platz der Leere und Ödnis und auch die Gestaltung der Bauten gerät in der Verwertungsmühle der kommerziellen Bauträger monotoner. Der anspruchsvolle ökologische Ansatz des Viertels geht nicht selten in massiver Versiegelung und Pflegestandards der Hausverwaltungen unter. Die Wirklichkeit hat die Ambition wieder eingeholt.

Immerhin werden einige Areale von gemeinschaftlichen Baugruppen realisiert, die künftig einige Strahlkraft entwickeln werden.

Wie von Edward Hopper gemalt: Nächtliche Straßenszene vor einer Café-Bar der Baugenossenschaft Wagnis. Der Wohnkomplex unterscheidet sich durch viele interessante Besonderheiten von gängiger kommerzieller Bauträgerarchitektur, darunter auch den mutigen und wohltuenden Einsatz von Farbe.

Auch eine Gartenstadt?

Die Stadtbaurätin bezeichnete die Messestadt bei einem Rundgang „als Gartenstadt des 21. Jahrhunderts“ und könnte damit durchaus recht haben.
Zwar gibt es im Stadtteil nur wenige Häuser mit einem eigenen Garten, doch der großzügige Park bietet für alle im Viertel (und darüber hinaus) einen großen Garten für alle, in dem vieles möglich ist und der den Menschen erlaubt, das Wochenende ganz entspannt zuhause vor der Tür im Grünen zu verbringen. Man muss nicht wegfahren, um sich zu erholen. Sicher keine schlechte Idee für die städtische Zukunft, und der entstandene Park und See stehen dafür anschaulich als reale Beispiele. Mit einem solchen „grünen Pfund im Rücken“ ließe sich wahrscheinlich gut verträglich dichter und höher bauen.

Geht da
noch was?

In der vielfach beklagten Monotonie gesichtsloser und austauschbarer Wohnkuben fehlt oftmals das Markante und Charakteristische, in dem Menschen sich wiedererkennen. Die Ursachen dafür dürften im hohen Verwertungsdruck des Immobilienmarktes, in der Fokussierung auf Standards und Technik verbunden mit einer gewissen baukulturellen Mut- und Einfallslosigkeit liegen. Im Wesentlichen bestimmt der Markt, wie unsere Städte aussehen. Echt jetzt?
Warʼs das wirklich? Oder geht da noch was?

Das herauszufinden, weniger aus der Perspektive offizieller Stadtplanung, sondern vielmehr auf Ebene der gebauten Wirklichkeit, quasi auf Straßenniveau und gerne mit den Menschen, die hier wohnen, ist der Sinn und Zweck von echt jetzt 2024.